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Vom Schtetl in den Hörsaal: Jüdische Frauen und Kulturtransfer

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minima judaica, Band 9

„Was motivierte jüdische Frauen in so erstaunlicher Zahl zum Studium an Universitäten des Kaiserreichs? Dem geht Luise Hirsch am Beispiel der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin nach, an der bis 1914 ein Viertel der Studentinnen jüdisch war. Erstmals unterscheidet sie zwischen den deutschen Studentinnen und denen aus dem Zarenreich – zwei kulturell und sozial völlig getrennte Gruppen. Beide aber profitierten nicht nur von der traditionellen Hochschätzung intellektuellen Lernens im Judentum, sondern auch vom Ausschluss von diesem religiösen Ideal der Männlichkeit, das Frauen mehr weltliche Bildung erlaubt hatte. Die Studentinnen aus Osteuropa, meist aus dem Kleinbürgertum des Schtetl kommend, standen dem traditionellen Judentum näher als die eher bürgerlichen deutschen Studentinnen. Was die russischen Studentinnen vor allem unterschied, war der Einfluss der Praxis weiblicher Berufstätigkeit der Jüdinnen im Zarenreich, orientiert an Selbstständigkeit und Durchsetzungskraft. Auch der russische Nihilismus propagierte Gleichberechtigung und Erwerbstätigkeit der Frau. Geprägt von diesem unbürgerlichen Geschlechtsideal, waren die russischen Studentinnen Pionierinnen des Frauenstudiums in Deutschland und der Schweiz.
Anhand zahlreicher Memoiren wird die so unterschiedliche Lebenswelt beider Gruppen veranschaulicht. Russische Studentinnen lebten oft in Armut und promovierten meist in Medizin. Deutsche Jüdinnen wählten auch andere Fächer und bildeten nach 1918 die Mehrheit der Habilitandinnen. Ihre Lebenswege können oft über erste Karrieren in der Weimarer Zeit bis zur Zerstörung durch den Nationalsozialismus dargestellt werden.
Diese transnationale und interkulturelle Studie kommt zu dem interessanten Schluss, dass die jüdische Minderheit die Avantgarde des Frauenstudiums bildete, gefolgt von der christlichen Mehrheit – dass also der Kulturtransfer von der Minderheit zur Mehrheit verlief, weil sich die kulturellen Werte beider hinreichend nahestanden.“
Prof. Dr. Monika Richarz

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